Wer eine universal verbindliche Ethik in einer spezifischen Religion zu begründen versucht, gerät bald an deren Grenzen. Es muss umgekehrt jede Religion und Weltanschauung in einer allgemeingültigen Ethik fundiert sein, damit alle Menschen in die Pflicht genommen werden können. Diesen Gedanken findet man bei fast allen großen Denkern, ob religiös oder säkular, ebenso.
Der Mensch ist aufgefordert, jede Form von Gemeinschaft bewusst und frei zu bilden. Unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, dass zusammenlebende Menschen solche Normen anerkennen, die ein möglichst konfliktfreies Zusammenleben garantieren. Sie müssen Verbindlichkeit besitzen, um bei aller historischen und kulturellen Verschiedenheit dem einen Ziel dienen zu können, ein friedliches Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen. Dieses Ziel ist daher der allgemeine Beurteilungsmaßstab, ob ein konkretes Gesetz rechtens ist oder nicht. Es ist gleichsam ein „Rechtsgrundsatz“. Zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Rechtszustandes bedarf es im Kontext der neuzeitlichen Entwicklung des Staates und überstaatlicher Organisationen, die dazu verpflichtet sind.
Diese Rechtsebene weist über sich hinaus auf die Ebene des Ethos, das vom Menschen ein allgemeingültiges Handeln, und zwar als Ganzheit von innerer Gesinnung und äußerer Tat, fordert – formulierbar etwa folgendermaßen: Handle so, wie jeder Mensch an Deiner Stelle handeln müsste. Kant nennt diese Formel Kategorischer Imperativ. Das ethische Prinzip ist also die Forderung nach allgemeingültigem Handeln. Die einzige Orientierung für ethisches Handeln ist und bleibt die Verallgemeinerungsfähigkeit. Dazu gehören das Humanitätsprinzip und die Goldene Regel der Erklärung zum Weltethos. Daher ist ein Weltfriede ohne Weltethos unmöglich!
Diese ethischen Grundsätze sind in der menschlichen Vernunft begründet und daher für alle Menschen verbindlich. Religionen und Weltanschauungen dürfen somit dem allgemeingültigen Ethos nicht widersprechen – sie dürfen mehr, aber nicht weniger vom Menschen fordern. Freilich ist es nicht nur möglich, sondern sinnvoll, Ethik und Religion in ihrer Korrelation zu sehen, insbesondere in dem Sinn, dass die jeweils spezifische Religion zusätzliche Motivation für ein alle Menschen umfassendes sittliches Handeln verleiht.
Der Beitrag der jeweiligen Religion sowie auch einer säkular-immanenten Weltanschauung zu einem universell ausgerichteten ethischen Handeln ist jeweils verschieden, und unterliegt selbst historischen Wandlungen. Aus heutiger Sicht können diese Beiträge etwa in folgender Weise formuliert werden:
Aus hinduistischer und buddhistischer Perspektive gilt als Grundhaltung „Ahimsa“, die völlige Gewaltenthaltung. Selbstverständlich ist das eine schwierige theoretische Vorgabe, sie ist aber schon beim Gedanken an den Schutz des eigenen Lebens nicht mehr so klar und einfach im Leben umzusetzen und bedarf tiefer Praxis zur wahren Auslegung.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Friedfertigkeit im buddhistischen Weltbild besteht darin, dass einerseits von fühlenden Wesen gesprochen wird, wobei Menschen sowie Tiere als gleichwertig in ihrem Bestreben auf der Suche nach Glück und dem Vermeiden von Leiden angesehen werden. Zusammenfassend kann gesagt werden: Wer eindringt in die wahre Erkenntnis der Buddha-Worte kann nicht mehr anders, als zu versuchen, friedvoll zu handeln. Stellvertretend für viele mögliche Zitate zum Friedensthema aus den umfangreichen buddhistischen Schriften, soll ein einschlägiger Vers aus dem Palikanon zitiert werden: Alle Wesen zittern vor Gewalt,/alle Wesen lieben das Leben,/sieh dich selbst in anderen, /und töte nicht, verletze nicht. (Dhammapada 130)
Im Judentum beinhaltet das Konzept „Schalom“ von seiner hebräischen Wortwurzel her die Bedeutungen einer Kombination der deutschen Worte Unversehrtheit, Vollständigkeit, Gesundheit, Ruhe, Sicherheit und Frieden.“Schalom“ nur mit dem deutschen Wort „Frieden“ zu ersetzen, wäre unzureichend, denn die Konzepte sind grundlegend verschieden. Während Frieden lediglich die Abwesenheit von Konflikt bedeutet, so wie Dunkelheit die bloße Abwesenheit von Licht ist, d. h. ein passiver Zustand, handelt es sich bei Schalom um ein aktives Moment. „Schalom“ ist nicht nur ein zentrales Konzept und häufiges Wort in der Hebräischen Bibel, sondern gleichzeitig auch einer der vielen Namen Gottes, und stellt ein im Sinne der Tora für alle zu erreichendes Ziel dar.
Aus der Sicht des Christentums ist das Postulat einer universell ausgerichteten Ethik schon im Alten/Ersten Testament mit den Worten ausgesprochen: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ (Lev 19, 18 b), dem das Wort Jesu entspricht: „Alles, was ihr von anderen erwartet, tut auch ihnen“ (Mt 7,12). Denn allgemeingültiges Handeln bedeutet ja, sich selbst keine „Privilegien“ herauszunehmen, die man anderen nicht zubilligt. In dieser Absicht fordert der Apostel Paulus auf, „nach dem zu trachten, was dem Frieden dient“ (Röm14,19), und an eine der ersten Christengemeinden schreibt er, dass „Christus unser Friede ist“, der die Feindschaft beseitigt (vgl. Eph 2,14). Dies zeigt, dass es nicht nur möglich, sondern sinnvoll ist, Ethik gleichsam religiös zu überhöhen: Ethisches Handeln kostet meist viel, manchmal sogar das Leben. Eine Letztsinngebung gibt dann der Glaube an Gott, der ein „Gott des Friedens“ ist (Phil. 4,9), und an die Unsterblichkeit – aber diese Letztsinngebung ist Folge, nicht Grund ethischen Handelns.
Aus muslimischer Perspektive ist friedliches Miteinander ein wesentlicher Aspekt des Islam. Einer der 99 Namen Allahs ist „Friede“ (59:23) und MuslimInnen begrüßen einander mit dem Friedensgruß „Assalamu alaikum“. Auch das tägliche Gebet wird mit „Assalamu alaikum“ beendet und der Kopf wird dabei nach rechts und links gedreht, symbolisch dafür, dass allen Menschen Frieden gewünscht wird. Achtsamkeit im Umgang mit Tieren, der Umwelt und den natürlichen Ressourcen ist ein klares Gebot, denn die Schöpfung zu achten bedeutet, dem Schöpfer zu dienen (6:102).
Einer der Aufträge der Menschen ist es, den Frieden zu verbreiten und zwischen streitenden Parteien zu schlichten (49:9). Das Prinzip der Eigenverantwortung und der Rechenschaft ist die Grundlage für ein verantwortungsvolles Leben und wird mit barmherzigem Handeln gegenüber allen Geschöpfen gekrönt. „Der wahre Gläubige wünscht seinem Bruder, seiner Schwester, was er sich selbst wünscht.“, so lautet es in einer Überlieferung des Propheten und: „Der Beste unter euch ist derjenige, der am nützlichsten für die Menschen ist.“ MuslimInnen sind dazu aufgefordert, hilfsbereit und wertschätzend zu sein und ihre Taten bewusst zu setzen, denn sie werden am Jüngsten Tag dafür Rechenschaft ablegen (49:11-12). Armen zu helfen, Waise aufzunehmen und Reisende zu versorgen, gilt als besonders wertvoll (2:177). Der Prophet Muhammad, Friede sei mit ihm, ist mit seiner Sanftmut und seinem Respekt gegenüber Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen ein Vorbild für MuslimInnen aller Zeiten, denn Vielfalt ist gottgewollt (49:13).
Aus der Sicht der Bahá’í-Religion, einer im 19. Jahrhundert neu entstandenen Religion, ist die wichtigste Voraussetzung für den Fortschritt der Menschheit eine vereinende Vision von der Zukunft der Gesellschaft, der Natur und dem Sinn des Lebens. Diesem Prinzip entsprechend ist die Ethik von Anfang an eine „reziproke“ (“Mute keiner Seele zu, was andere Dir nicht zumuten sollen“) und zugleich eine universal ausgerichtete, wie aus vielen Aussagen Bahá’u’lláhs, des Stifters der Bahá’í-Religion, klar hervorgeht. In seinen Schriften heißt es: „Der ist wirklich ein Mensch, der sich heute dem Dienst am ganzen Menschgeschlecht hingibt“. Und weiters: „Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur ein Land und alle Menschen sind seine Bürger“ . Er fordert die Regierenden der einzelnen Länder auf, die Einheit aller Völker und der Welt anzustreben: „Die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn und ehe nicht ihre Einheit (in der Vielfalt) fest begründet ist“. Um diesen Frieden zu ermöglichen, ist der Beitrag der Religionen ein wesentliches Erfordernis..
Aus der Perspektive eines humanistischen Atheismus ist es wünschenswert, dass der Umgang mit anderen Religionen und Kulturen auf einer Anerkennung von Rechtsstaatlichkeit und internationalen Grundrechtsvereinbarungen beruht und weltoffen, mit geduldigem Optimismus und auf Augenhöhe praktiziert wird. Es ist erstrebenswert, dazu beizutragen, dass ein gutes Leben für alle Menschen (egal wo und wie sie geboren worden sind) möglich wird. Eine volle Gleichberechtigung aller Geschlechter und sexuellen Identitäten ist dafür wichtig. Frieden ist eine Grundvoraussetzung für ein gutes Leben für alle in Vielfalt. Leider war der Frieden zwischen Religionen und Kulturen immer wieder vielfach gefährdet, besonders durch Vorurteile, Diskriminierungen (z.B. im Zugang zu Ressourcen), Nationalismus und Gewaltanwendung. Für eine universell orientierte Friedensentwicklung kann darum eine intelligente und zielorientierte Vergangenheitsaufarbeitung wertvolle Dienste erbringen.
Wenn es den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen bzw. Institutionen gelingt, an der Realisierung und Sicherung des Friedens zwischen Religionen, Kulturen und Völkern in der Gegenwart mitzuwirken, dann leisten sie zugleich einen Beitrag für die Zukunft, indem sie den einleitend angesprochenen Kantschen Imperativ in folgendem Sinn erweitern: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (Hans Jonas, in: „Das Prinzip Verantwortung“)