Fehlt da nicht ein Fragezeichen, werden sich manche fragen, wenn sie die Überschrift lesen. Denn so eindeutig ist es nicht, dass die Beachtung des Kindeswohls auch ethisch geboten ist. An der rechtlichen Verbindlichkeit besteht kein Zweifel. Nach Artikel 1 des Bundesverfassungsgesetzes Kinderrechte muss „bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen“ „das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein“. Österreich hat damit einen Teil der Verpflichtungen umgesetzt, die es mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention übernommen hat.
Zur vorrangigen Beachtung des Kindeswohls sind öffentliche wie private Einrichtungen verpflichtet. Aber was ist das eigentlich, das Kindeswohl? Nach dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch sollen Kinder angemessen versorgt und sorgfältig erzogen werden, ihre körperliche und seelische Integrität soll geschützt werden. Die Eltern sollen sie wertschätzen und akzeptieren. Kinder sollen gefördert, ihre Meinung soll berücksichtigt werden, sie sollen vor Beeinträchtigungen und Gefahren geschützt werden. Kinder sollen verlässliche Kontakte zu beiden Elternteilen und wichtigen Bezugspersonen haben, Loyalitätskonflikte und Schuldgefühle sollen vermieden werden, die Rechte, Ansprüche und Interessen der Kinder sollen gewahrt werden.
Der Gesetzgeber will damit eine bestmögliche Entwicklung des Kindes gewährleisten, eine Entwicklung hin zu einem erfüllten Leben und gleichzeitig zu einem verantwortungsvollen Mitglied der Gesellschaft. Erfüllt er damit auch ein ethisches Gebot? Dafür spricht, dass Kinder schwächer sind als Erwachsene. Der Schutz des Schwächeren ist ethisch geboten. Aber auch die Goldenen Regel verlangt die vorrangige Beachtung des Kindeswohls. Denn wenn wir uns fragen, wie wir behandelt werden möchten, wären wir Kinder, dann werden wir uns ein stabiles Umfeld, Zuwendung, Wertschätzung und Schutz wünschen. Genau das, was uns das Gesetz aufträgt.
(Irmgard Griss)