Vortrag Anton Pelinka

Anton Pelinka

 

DEMOKRATIE UND MENSCHENRECHTE ALS FUNDAMENTE EUROPAS – CHANCEN UND GRENZEN DES DIALOGS MIT DEM ISLAM

 

Vortrag im Rahmen der Studientagung „Religion versus Politik. Die europäische Demokratie und der Islam“, 17.November 2006, Raiffeisenhaus Wien

 

Ein Megatrend, der die europäische Gesellschaft nach 1945 bestimmte, war die Säkularisierung. Die europäischen Staaten, die sich als liberale Demokratien etablierten, gaben der Religion ihre Freiheit und einen Platz außerhalb der Politik. Die Einheit von Thron und Altar, von Staat und Kirche schien nur noch der Vergangenheit anzugehören. Religiöse Motivationen in der Politik wurden respektiert – solange sie sich den Spielregeln eines politischen Systems unterwarfen, die auch und wesentlich auf einem ethischen Relativismus beruhten.

 

 

SÄKULARISIERUNG – UND DER GEGENTREND

 

Solange Europa gespalten war in einen Westen, der einem Mix aus diesem ethischen Relativismus und einer im wesentlichen der Aufklärung verpflichteten Werteordnung verbunden war – und einen Osten, der eine mit Zwangselementen verbundene Säkularisierung von oben repräsentierte, solange schien Säkularisierung ein Megatrend zu sein. Dies konkretisierte sich in einer Entwicklungsdynamik, die unabhängig vom politischen Regime, von parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen und programmatischen Willenserklärungen voranschritt – verankert in der Gesellschaft selbst.

 

Indikatoren für diesen Megatrend war die zunehmende Distanz zwischen Gesellschaft und einer in Kirchen organisierten Religiosität, ausgedrückt in abnehmenden kirchlichen Bindungen: Rückgang der Teilnahme am kirchlichen Leben (z.B. regelmäßiger Besuch von Gottesdiensten), Rückgang der formalen Zugehörigkeit (Mitgliedschaft) zu einer Religionsgemeinschaft. Die Kirchen im (europäischen) Westen waren wohlwollend geduldet, ihre Rolle war respektiert und offiziell hoch gehalten  – vom Staat, von den Verfassungen, von völkerrechtlichen Verträgen in Form von Konkordaten. Doch in der (west)europäischen Gesellschaft nahm die prägende Kraft von Religion stetig ab. (Zulehner, Denz 1993)

 

In der Politik äußerte sich dies im Bedeutungsverlust des Integralismus – des Anspruches der Kirche(n), der Politik Inhalte vorgeben zu können. In der Katholischen Kirche war das Vaticanum Secundum eine Wasserscheide: Die Kirche selbst schien vom „hohen C“ Abstand zu nehmen; von der Vorstellung, dass Politik zunächst und vor allem christlich zu sein hätte; und dass über die Substanz christlicher Politik die Kirche (und das war zunächst immer Papst, Bischöfe, Klerus) selbst zu wachen hätte.

 

Ein wachsender innerkirchlicher politischer Pluralismus war Ausdruck dieser Entwicklung: Christen engagierten sich in dieser oder jener Partei; Christen standen „rechts“ oder auch „links“; und die Kirche hielt sich, ja musste sich aus diesem politischen Wettbewerb zwischen Christen heraushalten. Was “christlich“ in der Politik sein sollte, das wurde blass, schien überhaupt zu verschwinden. Während noch in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts katholische Bischöfe im engsten Sinn Partei waren – im spanischen Bürgerkrieg ebenso wie in den Auseinandersetzungen der Ersten Republik in Österreich, im Italien der Lateran-Verträge ebenso wie im Mexico der revolutionären Auseinandersetzungen der 1920er Jahre: Im späteren 20.Jahrhundert wurden die Bischöfe zu generellen Mahnern, deren Botschaft sich mit nahezu allen konkreten Parteiungen vereinbaren ließ.

 

Die Kirche (die Kirchen) Europas versagte sich zunehmend eine konkrete Parteinahme – und gewann dadurch eine allgemeine, überparteiliche, freilich auch wiederum tendenziell sehr blassen Autorität. Die antikirchlichen Reflexe etwa der „laizistischen“ Linken schwächten sich, parallel dazu, ab: Freidenker- und Kirchenaustrittsbewegungen hörten auf. Die Kirche (die Kirchen) waren weniger Partei – und die einstens „antiklerikalen“ Parteien hörten auf, antikirchlich zu sein. Die Kirche versöhnte sich mit dem Pluralismus der Demokratie, wurde selbst politisch immer pluralistischer – und im Konzert der Parteiungen wurde die Kirche immer weniger als irgendjemandes Feindbild wahrgenommen.

 

Dieser Megatrend Säkularisierung ist inzwischen in Frage gestellt. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen arbeiten dem Megatrend entgegen. Was nach dem Zweiten Vaticanum als weitgehend selbstverständlich galt, ist inzwischen nicht mehr selbstverständlich. Der Säkularisierung stellt sich ein Gegentrend entgegen – die Re-Politisierung von Religion. Faktoren dieses Gegentrends sind:

 

–       Der „polnische Faktor“: Die Transformation in Polen war entscheidend von dem gesellschaftlichen Gewicht der Katholischen Kirche beeinflusst. Die Kirche war der wichtigste anti- und nichtkommunistische Akteur im kommunistischen Polen. Der „Wojtyla“- Effekt hatte diese Funktion noch verstärkt: Der „polnische Papst“ demonstrierte den Einfluss der Religion in einer eben doch nicht vollkommen säkularisierten Gesellschaft. Der „polnische Faktor“ existiert nicht nur in Polen: Als „russischer Faktor“ beispielsweise bedeutet er die Wiederkehr der Russisch-Orthodoxen Kirche als politische Akteurin, die auch das politische System des postkommunistischen Russland berücksichtigen muss. Im früheren Jugoslawien spielte Religion bei der Aufschaukelung von religiös definierten Nationalismen eine zentrale Rolle – orthodox und serbisch, muslimisch und bosniakisch, katholisch und kroatisch konnten jeweils ganz einfach gleichgesetzt werden. Das Ende des totalitär oder autoritär verordneten Säkularismus demonstrierte dessen Schwäche: Religion ist gerade auch in postkommunistischen Gesellschaften ein keineswegs von Politik zu trennender Aspekt des gesellschaftlichen Lebens.

 

–       Der „amerikanische Faktor“: Die US-Gesellschaft, die – im Gegensatz zu dem in der US-Verfassung  konsequent verankerten Prinzip der Trennung von Staat und Kirche – viel stärker als die europäische Gesellschaft religiös bestimmt blieb, wurde an der Wende zum 21.Jahrhundert verstärkt zur Triebkraft der Politik. Evangelikale Gemeinschaften („moral majority“) sehen in der Innenpolitik (Abtreibung, Stammzellenforschung, Evolutionstheorie), aber auch in der Außenpolitik (interventionistische Befreiungspolitik) ein weites Betätigungsfeld einer möglichst direkten Umsetzung religiöser Motive in konkrete Politik. Die US-Gesellschaft, in der die gesellschaftlichen Indikatoren im Spannungsfeld Säkularismus – Religiosität ganz anders aussehen als in der europäischen Gesellschaft, zeigt die Unmöglichkeit, eine religiös bestimmte Gesellschaft an einer religiös bestimmten Politik zu hindern. Die prinzipielle Differenz zwischen einem säkularisierten (West-) Europa und der hoch religiös bewegten Gesellschaft der USA bestimmt deutlich den atlantischen Graben, der die USA und (West-) Europa zunehmend trennt. (Wills 1990)

 

–       Der „islamische Faktor“: Die (im Sinne Samuel Huntingtons) „westliche“ Zivilisation sieht sich verstärkt mit einem islamisch formulierten Anspruch an eine islamisch-religiös Gestaltung von Politik konfrontiert. Das beeinflusst die Internationalen Beziehungen – ein Gutteil der mit Gewalt ausgetragenen Konflikte in der Welt des beginnenden 21.Jahrhunderts (Tschetschenien und Kaschmir, Naher Osten und der „Krieg gegen den Terror“) laufen entlang der Konfliktlinie, die die islamische Zivilisation von anderen Zivilisationen trennt. (Röhrich 2004) Das beeinflusst aber auch die gesellschaftlichen Strukturen und damit die Innenpolitik der Staaten Nordamerikas und fast mehr noch Europas: Die Massenmigration, eine unvermeidliche Konsequenz der Globalisierung, hat die Vision von einer islamischen Gesellschaftsordnung in die westliche Zivilisation implantiert. Diese religiös motivierten politischen Vorstellungen richten sich zuvorderst gegen die Grundprinzipien des Säkularismus. Die islamische Zivilisation fordert diese Grundprinzipien heraus – und die westliche Zivilisation ist in Versuchung, selbst auf diese Grundprinzipien zu verzichten.

 

Diese Faktoren sind auch Teil einer globalen (Un-) Ordnung, die der relativ eindeutigen Ordnung des Ost-West-Konfliktes gefolgt ist. Samuel Huntingtons Paradigma „Clash of Civilisations“ geht davon aus, dass – nachdem sich die bipolare Ordnung des Konfliktes der zwei Welten (der „ersten“ und der „zweiten“ Welt) nach der Implosion der politischen Systeme sowjetischen Typs in Europa verflüchtigt hat – nun ein anderes, gleichsam „normales“, multilaterales Konfliktmuster sich Bahn bricht: Der potentiell gewaltsame Gegensatz zwischen Zivilisationen, deren Definitionsmerkmal eine primär religiös vermittelte, transnationale Kultur ist. Dabei kommt der „westlichen“ (katholisch-protestantischen), der „östlichen“ (orthodoxen), der muslimischen, der hinduistischen, der buddhistischen und der konfuzianischen Zivilisation die entscheidende Bedeutung zu.

 

 

STAAT UND KIRCHE(N)

 

Diese Faktoren sind jedenfalls Grund genug, die verschiedenen Grundmuster der Beziehung von Staat und Kirche (oder Moschee oder Tempel) sowie der Beziehung von Politik und Religion zu überdenken. Dabei ist von einer Nicht-Korrelation auszugehen: Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf der einen, zwischen Religion und Politik auf der anderen Seite sind keineswegs kausal miteinander verbunden. Eine Verflechtung von Kirche und Staat kann mit einer weitgehenden Entflechtung von Politik und Religion einhergehen – und umgekehrt.

 

Der Vergleich zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich unterstreicht diese Nicht-Korrelation:

 

–       Das britische Staatsoberhaupt ist als solches Haupt der „Church of England“. In der britischen Gesellschaft haben jedoch religiöse Motivationen nur eine geringe politische Mobilisierungskraft.

 

–       In den USA ist – unabhängig von der Trennung zwischen Kirche und Staat – Religion eine der bestimmenden politischen Kräfte.

 

Diese Gegenläufigkeit ist natürlich erklärbar – und zwar aus der Geschichte. Während die englische Reformation die von Rom losgelöste Kirche zur Staatskirche machte – mit der logischen Konsequenz, dass Staats- und Kirchenoberhaupt eins wurden, war die Gesellschaft der 13 britischen Kolonien von einer religiösen Pluralität gekennzeichnet. Die Loslösung von der britischen Krone war die Loslösung von der englischen Staatskirche – ohne dass an deren Stelle eine andere, mit den neu gegründeten Vereinigten Staaten formal verbundene Kirche als gesellschaftlich und politisch dominante religiöse Organisation hätte treten können. Dass der „amerikanische Faktor“ eine massive Integration von Religion und Politik bedeutet, während in Großbritannien ein ähnliches Phänomen nicht festzustellen ist, unterstreicht nur, wie wenig die formale Regelung der Beziehung zwischen Kirche und Staat über die politische Bestimmungskraft von Religion aussagt.

 

Diese Gegenläufigkeit kann durch andere – scheinbare – Widersprüche ergänzt werden: In Indien ist die Gesellschaft massiv durch religiöse Verwerfungen bestimmt. Religion ist ein entscheidender Aspekt, der politisches Verhalten erklärt und politische Mobilisierung ermöglicht. Insbesondere der Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen ist von permanenter Explosivität. Dennoch sind in Indien Staat und Religionsgemeinschaften streng getrennt. Diese in Indien als säkulares Prinzip bezeichnete Trennung ist die Voraussetzung für ein Zusammenleben der hoch politisierten Religionen. Damit wird auch Indiens Identität von der Pakistans – das sich als moslemischer Staat versteht – eindeutig unterscheidbar.

 

Der Säkularismus in Europa hat sich trotz der bestehenden Verflechtungen von Kirche und Staat durchgesetzt. Diese Verflechtungen artikulieren sich, einem schon vor dem 20.Jahrhundert entwickelten Trend folgend, in zwei Grundmuster:

 

–       Die Verflechtung katholisch geprägter Staaten mit der Katholischen Kirche. Diese Verflechtungen werden durch Konkordate verfestigt – durch völkerrechtliche Verträge zwischen einzelnen Staaten und dem „Heiligen Stuhl“. In den Konkordaten werden der Katholischen Kirche bestimmte Rechte zugesichert – vor allem im Bereich der Erziehung (Schul- und Universitätswesen) und der Finanzierung.

 

–       Die Verflechtung in protestantisch (und auch orthodox) geprägten Staaten. Diese Verflechtungen äußern sich in Staatskirchen, in denen die staatliche und die kirchliche Autorität eins sind. Den Angehörigen der Staatskirche wurde, historisch, ein privilegierter oder auch monopolartiger Zugang zu bestimmten (vor allem politischen) Positionen eingeräumt.

Diese Verflechtungen sind, im Gefolge des Megatrends Säkularisierung, in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit wesentlich abgeschwächt, bzw. obsolet geworden. Das Ausmaß der kirchlichen Ansprüche und Rechte, die vom Konkordat definiert werden, ist tendenziell rückläufig. So ist z.B. das Thema Eherecht weitgehend aus dem Katalog der Konkordate verschwunden: Während die Lateran-Verträge 1929 und das österreichische Konkordat 1933 noch alle Katholikinnen und Katholiken dem Eherecht des Codex iuris canonici unterstellten, finden sich analoge Bestimmungen in den Konkordaten des späten 20.Jahrhunderts nicht mehr. Die protestantischen Staatskirchen sind nur noch als Fassade aufrecht – und in der postkommunistischen Orthodoxie beobachtbare Tendenz zur Renaissance nationaler Staatskirchen hat, auch wegen der Unterbrechung der Kontinuität z.B. des Russischen Staatskirche, zu keiner Wiederherstellung des byzantinisch-russischen Cäsaropapismus geführt.

 

Der für die europäische Politik unmittelbar relevante „polnische Faktor“ und der mittelbar relevante „islamische Faktor“ haben jedenfalls (noch?) zu keiner Wiederkehr katholischer, protestantischer oder orthodoxer staatsrechtlicher Integralismen geführt – zu jener Vorstellung, dass die Lehre, aber auch die Struktur der Kirche Ausdruck in der politischen Orientierung und im institutionellen Aufbau des Staates finden müsste. (Zum Begriff Integralismus siehe Knoll 1962)

 

Der Megatrend Säkularisierung demonstriert, dass die Beziehung zwischen Staat und Kirche(n) nur höchst ungenau anzeigen, wie es um die Beziehung zwischen Politik und Religion steht. Das Beziehungsgeflecht zwischen Staat und Kirche(n) hat sich nach 1945 nur wenig verschoben – sieht man von den umfassenden Konsequenzen des Zusammenbruchs der kommunistischen Systeme einmal ab. Die Beziehung zwischen Politik und Religion hingegen hat sich dramatisch verändert: Fast überall in Westeuropa waren religiöse Motive am Ende des 20. Jahrhunderts von signifikant geringerer politischer Mobilisierungs- und Prägekraft als am Beginn des 20. Jahrhunderts.

 

 

RELIGIÖSE FRAGMENTIERUNG

 

Samuel Huntingtons Analyse des Zusammenpralls von primär religiös bestimmten Zivilisationen hat um die Wende zum 21.Jahrhunderts den Blick für Entwicklungen geschärft, die einer vor allem eurozentrischen Sichtweise lange verborgen schienen. (Huntington 1996, insbes. 40 – 55) Religiöse Gegensätze sind offenkundig nicht langfristig zum Aussterben verurteilte, vor allem außereuropäische Phänomene. Sie sind ganz eindeutig resistente, ja an Bedeutung gewinnende, auch europäische Erscheinungen.

 

Religiöse Fragmentierungen mit politischer Sprengkraft lassen sich in Europa auf mehreren Ebenen beobachten:

 

–       Traditionelle Fragmentierungen zwischen religiös bestimmten (Sub-) Gesellschaften in Westeuropa ohne Migrationshintergrund. Solche Fragmentierungen bestimmen mit abnehmender Intensität das politische System der Schweiz wie auch das der Niederlande; mit gleich bleibender Intensität das politische System Nordirlands. Das Schweizer Parteiensystem, seit Mitte des 19.Jahrhunderts gekennzeichnet vom Spannungsfeld zwischen einer katholisch verwurzelten (CVP) und einer protestantisch verwurzelten Partei (FDP) ist von den Folgen einer Säkularisierung erfasst: Eine a priori säkulare Partei (SP) und eine ursprünglich protestantische, zunehmend aber interkonfessionelle Partei (SVP) bestimmen immer stärker das Parteiensystem. In den Niederlanden kennzeichnet der Zusammenschluss der beiden protestantischen Parteien (CHU, ARP) mit der katholischen Partei (KVP) zu einer interkonfessionellen christlich-demokratischen Partei (CDA) die Säkularisierung. Nordirland hingegen zeigt sich solchen Entwicklungen gegenüber resistent: Das nordirische Parteiensystem zerfällt nach wie vor in zwei voneinander separierte politische Märkte – einen protestantischen und einen katholischen. (Pelinka 2005, 173 – 192)

 

–       Traditionelle religiöse Fragmentierungen in den politischen Systemen des postkommunistischen Europa. Bosnien-Herzegowina ist ein nach scheinbar ethnischen, in Wahrheit religiösen Zuordnungen tief zerklüfteter Staat, dessen föderale Struktur auf der durch ethnisch-religiöse Säuberungen verstärkten Vorherrschaft einer der drei dominanten Religionsgemeinschaften in jeweils einem der drei Landesteile beruht. Im Kosovo ist die Bruchlinie national, aber auch – vor allem aus der Sicht der serbischen Minderheit – religiös bestimmt. In Bulgarien artikuliert sich der Konflikt zwischen der bulgarisch-orthodoxen Mehrheit und der türkisch-moslemischen Minderheit im Parteiensystem, das durch die Existenz einer implizit türkisch-moslemischen Partei (DPS) wesentlich bestimmt wird. In Tschetschenien wird seit vielen Jahren, mit unterschiedlicher Intensität, in einem Guerillakrieg entlang ethno-religiöser Gegensätze gekämpft.

 

–       Nicht-traditionelle religiöse Fragmentierungen in (primär West-) Europa als Folge von Migration. Der Zustrom vor allem außereuropäischer, nicht vom Christentum geprägter Menschen verschiebt nicht nur die demographische Zusammensetzung der westeuropäischen Staaten, er kreiert auch eine politische Explosivität besonderer Art. Muslime, Hindus, Sikhs sind Teil des europäischen Alltags geworden. Das Verständnis der Migrantinnen und Migranten – auch in der zweiten und dritten Generation – vom Zusammenhang zwischen Religion und Politik ist vielfach ein grundsätzlich anderes als es dem (bis dahin) herrschenden, vom Megatrend Säkularisierung bestimmten Verständnis in (West-) Europa entspricht. Die Folgen sind explosive Konflikte zwischen einem gewaltbereiten Verhalten auf beiden Seiten – auf der Seite der oft in Subgesellschaften lebenden Migrantinnen und Migranten und auf der Seite der der „indigenen“ europäischen Bevölkerung, die mit xenophobem Verhalten reagiert. Die Gewaltexplosionen in Großbritannien und in Frankreich, die zumindest latent gewaltsamen Spannungen in den Niederlanden und in Belgien, letztlich aber Entwicklungen in ganz Europa unterstreichen dies.

 

An die Stelle des Megatrend Säkularisierung ist vielfach der Gegentrend zu einem neuen Integralismus getreten: Muslime stellen dem europäischen Selbstbild religiöser Toleranz ein forderndes Bild von einer moslemisch geprägten Gesellschaftsordnung gegenüber; und Christen, deren Bindung an ihre Kirche eine höchst lockere geworden ist, wollen nun plötzlich eine christliche Kultur gefährdet sehen und diese verteidigen.

 

Der Streit um die dänischen Karikaturen, 2005, und die Kontroverse um die (indirekte) Kritik des Papstes am Islam, 2006, sind Indikatoren der Re-Politisierung von Religion auch und gerade in Europa. Der Fortschrittsoptimismus, den verschiedene Analytiker, die aus der Tradition der europäischen Aufklärung kommen, gegen Ende des 20.Jahrhunderts verbreitet haben, ist jedenfalls am Beginn des 21.Jahrhunderts brüchig geworden: Fundamentalismen religiöser und/oder nationaler Provenienz bedrohen das von Francis Fukuyama gezeichnete Bild einer Weltgesellschaft, in der alle Entwicklungen langfristig auf den Sieg einer religiös toleranten, der liberalen Demokratie verpflichteten Ordnung weisen. (Fukuyama 1992)

 

 

SÄKULARISMUS – DENNOCH DAS NOTWENDIGE KONZEPT

 

Die Vorstellung, dass der in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts Europa bestimmende Megatrend Säkularisierung einfach ungebrochen fortschreitet und damit Religion zu einer politisch irrelevanten Sache des Privatlebens macht, ist falsifiziert. Diese Vorstellung hat sich als naiv-eurozentrisch erwiesen. Das weitere Fortbestehen politisch relevanter religiöser Fragmentierungen und das Hinzutreten neuer Formen solcher Fragmentierungen widerlegen den linearen Fortschrittsoptimismus dieser europäischen Sichtweise. Huntingtons pessimistische Perspektive ist, jedenfalls kurzfristig, von der realen Entwicklung bestätigt – und nicht Fukuyamas optimistische Wahrnehmung.

 

Doch auch wenn der Megatrend Säkularisierung durch einen Gegentrend zurückgeworfen ist: Säkularisierung als Konzept ist die einzige konsistente Alternative zu einem Konflikt religiös bestimmter Zivilisationen, der außer Kontrolle gerät. Das Potential an religiös-zivilisatorisch motivierten Kriegen ist augenfällig. Will man dieser global zerstörerischen Entwicklung wirksam entgegentreten, wird man auf die Vorstellungen einer säkularen Gesellschaft zurückzukommen haben.

 

Säkularismus darf freilich nicht als ein latent antireligiöses Rezept verstanden werden. Dass Religion, dass religiös motiviertes gesellschaftliches Verhalten zu den Konstanten jeder Gesellschaft zählt, hat nicht zuletzt die Implosion des marxistisch-leninistischen Herrschaftssystems bewiesen: Mehrere Generationen waren einer mit den Mitteln staatsmonopolistischer Gewalt auftretenden antireligiösen Erziehung ausgesetzt. Die Folge war nicht ein Absterben der Religion – sondern ein Absterben des marxistisch-leninistischen Sowjetstaates.

 

Das Konzept einer säkularen Ordnung der Gesellschaft baut auf der Anerkennung von Religion und von religiös motiviertem Verhalten auch in der Politik auf. Als Folge der Globalisierung kann dies freilich nicht die Anerkennung einer einzigen religiösen Motivation bedeuten, sondern die Anerkennung religiöser Vielfalt, religiöser Heterogenität. Diese Heterogenität lässt sich in den USA und in Indien wie auch in ganz Europa beobachten. Säkularismus bedeutet, grundsätzlich von der Gleichberechtigung dieser so vielfältig auftretenden Religionsgemeinschaften auszugehen: Weder soll es in Indien einen Vorrang des Hinduismus, noch in den USA den Vorrang eines (protestantisch geprägten) Christentums geben. Und erst recht muss Europa von der Phantasie Abstand nehmen, die Heimstätte eines nach wie vor vorhandenen „christlichen Abendlandes“ zu sein.

 

Säkularismus bedeutet freilich auch, dass als Konsequenz dieser Anerkennung religiöser Heterogenität die Religionsgemeinschaften selbst diesen so definierten Säkularismus zu akzeptieren haben; dass sie nicht von einem natur- oder gottgegebenen Vorrang eines – ihres eigenen – Verständnisses von der Gestaltung der Gesellschaft ausgehen dürfen. Einerseits ist im Konzept des Säkularismus anzuerkennen, dass jede Gemeinschaft für sich einen Wahrheitsanspruch stellt; andererseits muss aber darauf bestanden werden, dass dieser Wahrheitsanspruch nicht als politisch umzusetzendes Programm der Gesellschaftsgestaltung verstanden werden darf, das anderen Ansprüchen die Legitimität abspricht.

 

Dies läuft letztlich darauf hinaus, dass eine – nicht theoretisch oder gar theologisch verfestigte, aber pragmatisch akzeptierte – Trennung von Staat und Gesellschaft, von öffentlich und privat besteht. In der Gesellschaft können Religionsgemeinschaften ihren Wahrheitsanspruch formulieren, können auch missionieren – was ja eine konsistente Folge des Wahrheitsanspruches ist. Im Staat, das heißt in der institutionalisierten Politik – in den Parlamenten und Regierungen, muss dieser Wahrheitsanspruch aber zurückgenommen werden. Säkularismus – wie Demokratie ja auch – setzt einen Werterelativismus voraus, der freilich kein absoluter, sondern wieder nur ein relativer ist: Aufbauend auf einem außer Streit gestellten, unterschiedlich (religiös und/oder säkular) begründeten Sockel von Werten hat kein darüber hinausgehender Werteanspruch Vorrang, sondern muss sich im freien Spiel der Kräfte am politischen Markt legitimieren.

 

Dieses Konzept entspricht ja auch dem der herrschenden Demokratietheorie. Robert Dahls Theorie der „citizenship“ umfasst (und konkretisiert) das, was in den verschiedenen Erklärungen zur Universalität der Menschenrechte – beginnend mit der Unabhängigkeitserklärung der USA, 1776 – ausgedrückt ist: Demokratie ist keine wertfreie Herrschaft der Mehrheit, Demokratie bedeutet Mehrheitsherrschaft im Rahmen ethisch definierter Grenzen, die dem Schutz von Minderheiten und Individuen dienen. (Dahl 1989, 119 – 131) Dieses Konzept entspricht grundsätzlich auch dem Gedanken eines Weltethos, das für alle Religionsgemeinschaft eine gemeinsame Grundlage formuliert – und auch für einen nicht religiösen, ausschließlich humanistischen Zugang offen ist.

 

Dies bedeutet für Europa, bezogen auf konkrete Formen neuerer religiöser Fragmentierung,

 

–       dass z.B. Migrantinnen und Migranten, die aus nicht-europäischen, nicht-christlichen Zusammenhängen kommen und in diesen weiter leben, zur politischen Beteiligung eingeladen sind;

–       dass ein längeres Fernhalten von der politischen Partizipation – durch das Aufstellen von besonders hohen Hürden beim Erwerb des Staatsbürgerschaft – demokratisch nicht legitim ist;

–       dass z.B. Muslime in Europa sich nicht als „Fremde“, sondern – durchaus in Entsprechung des Konzeptes des „Euro-Islam“ – sich als Europäer fühlen sollen;

–       dass sie auch ihre religiös geprägte Subkultur pflegen, auch ihre religiös geprägten politischen Initiativen setzen sollen;

–       dass sie allerdings nicht eine Islamisierung der Gesellschaft verlangen oder auch nur erwarten können;

–       dass sie, mit anderen Worten, sich als Teil einer säkularen, religiös toleranten, aber nicht wertneutralen, demokratisch gestalteten Gesellschaft sehen müssen: wie Christinnen und Christen, wie Jüdinnen und Juden, wie Agnostikerinnen und Agnostiker auch.

 

 

ZUR SITUATION IN ÖSTERREICH

 

Das in Österreich etablierte System der staatlich anerkannten Religionsgesellschaften ist ein brauchbarer Ansatz für die Konkretisierung dieses Konzepts des Säkularismus. Zwar sind manche Aspekte dieser österreichischen Lösung rechtsstaatlich bedenklich – so bleibt unklar, nach welchen Kriterien letztlich die Bundesregierung (bzw. das zuständige Bundesministerium) eine Anerkennung ausspricht; und es fehlt auch ein rechtsstaatlicher Instanzenzug. Da aber die Anerkennungspraxis in der Zweiten Republik tendenziell liberal, also für beantragte Anerkennungen eher offen war, sind diese kritisierbaren Aspekte zwar anzumerken, sie sind aber nicht das primäre politische Merkmal der Anerkennung.

 

Dieses System der Anerkennung ist ein möglicher pragmatischer Umgang zwischen zwei Extremen – zwischen dem Idealtypus der Trennung von Staat und Kirche(n) und dem der Verbindung (im Sinne einer Staatskirche oder Staatsreligion). Es ist ein System pluralistischer Verflechtung zwischen den organisierten Religionsgemeinschaften und dem Staat.

 

Der Hintergrund dieses österreichischen Modells weist zurück in die Zeit der Schlussphase der Habsburger-Monarchie: Die österreichische Reichshälfte war zunehmend konfrontiert mit einer religiösen Heterogenität – und einer politischen Grundhaltung, die (schrittweise seit Josef II) auf Distanz zur katholischen Gegenreformation gegangen war. Der Vorrang der Römisch-Katholischen Kirche war angesichts des im Staatsgrundgesetz von 1867 festgehaltenen Wertekatalogs nicht mehr haltbar. Doch statt die Katholische Kirche zur Gänze aus ihrer privilegierten Stellung zu vertreiben, wurden nun andere Religionsgemeinschaften in den Genuss grundsätzlich analoger Privilegien gebracht: vom staatlich finanzierten Religionsunterricht im öffentlichen Schulwesen bis hin zur Finanzautonomie in Form der rechtlich privilegierten  Einhebung von Beitragszahlungen („Kirchensteuer“).

 

Diese Form einer symmetrischen Privilegierung reibt sich mit einer Praxis, die nach wie vor einen – quantitativ und historisch begründbaren – Vorrang der Römisch-Katholischen Kirche ausdrückt. Überdies hat die Katholische Kirche durch das Konkordat Rechte, die über die Privilegien der anderen anerkannten Religionsgemeinschaften hinausgehen – wie z.B. das Recht, in die universitäre Wissenschaftsfreiheit an den vier römisch-katholischen Fakultäten der staatlichen Universitäten eingreifen zu können.

 

Doch diese Praxis wird in der Zweiten Republik weitgehend anerkannt. Seit der Regelung der Frage der Anerkennung (und Wirksamkeit) des Konkordates von 1933 durch dessen teilweise Neuformulierung (Zusatzkonkordat von 1960) sind Fragen der formalen Beziehung zwischen Kirche und Staat ohne besondere politische Sprengkraft. Dazu hat freilich auch die Abkehr der Kirche vom Politischen Katholizismus der Ersten Republik beigetragen: Die Kirche (ihre Bischöfe und der Klerus) akzeptieren den innerkirchlichen politischen Pluralismus ebenso wie die pluralistische Demokratie. (Pelinka, Rosenberger 2003, S. 198 – 206)

 

Dieses pragmatisch entwickelte Muster einer symmetrischen und gleichzeitig nicht so ganz symmetrischen Beziehung zwischen Staat und Kirche(n) wird allerdings durch die Folgen der Migration herausgefordert. Der Islam, im Kaiserreich vor allem durch die Annexion Bosnien-Herzegowinas eine relevante religiöse Gruppe und deshalb auch formell anerkannt, war in der Republik zunächst de facto nicht sichtbar. Durch die Migrationsströme der Zweiten Republik wuchs der Islam zur zweitgrößten Konfession Österreichs. Und als staatlich anerkannte Religionsgesellschaft kann er Rechte in Anspruch nehmen, die vom islamischen Religionsunterricht – einschließlich der Ausbildung der Religionslehrer – bis hin zum Bau von der Größe der Gemeinschaft entsprechenden Moscheen reichen. Der Islam in Österreich hat seine Phase der Nicht-Sichtbarkeit hinter sich gelassen – er ist höchst sichtbar geworden.

 

Das provoziert eine oft nur religiös verkleidete Fremdenfeindlichkeit: wenn z.B. Parteien und Bewegungen, die – wie etwa der österreichische Deutschnationalismus – historisch und aktuell eine große Distanz zur Symbolik des Katholizismus aufweisen – sich eben dieser Symbolik bedienen, um eine antiislamische Rhetorik zu untermauern. Und das macht auch Konflikte deutlich, die durch die pragmatische Handhabung des Systems der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften nicht lösbar sind – etwa die Frage nach der Autonomie einer islamischen Erziehung, die Geschlechterrollen in einer Form betont, die zwar vor nicht allzu langer Zeit der christlich oder auch jüdisch geprägten Erziehung so fremd nicht wahr, die aber dennoch in der Gegenwart vor allem als Verstoß gegen Frauen- und damit Menschenrechte gesehen wird.

 

Das Konzept eines pragmatisch, nicht dogmatisch verstandenen Säkularismus erfordert es, dass dem Islam als staatlich anerkannter Religionsgesellschaft dieselben Rechte eingeräumt werden wie den anderen, ebenfalls anerkannten religiösen Gemeinschaften auch. Gleichzeitig aber verlangt dieses Konzept die Anerkennung des Säkularismus durch den Islam selbst – wie es auch die Anerkennung durch die anderen Religionsgemeinschaften einzufordern hat.

 

 

RESUMÉ

 

Die Beziehungen zwischen Religion und Politik, zwischen Kirche(n) und Staat ist ein lebendiges Geflecht, das sich nicht allein durch ein Normengefüge steuern und auch nicht erklären lässt. Jede eindimensionale Sichtweise – sei sie die eines auf strikte Trennung von Religion und Politik abgestellten Laizismus, sei sie die eines religiösen Integralismus oder Fundamentalismus – wird weder der sozialen Komplexität gerecht, noch hat sie die politische Chance, eine solche, grob simplifizierende Perspektive in gesellschaftliche Realität umzusetzen. Der militante Atheismus sowjetischen Stils ist gescheitert. Die Versuche der Römisch-Katholischen Kirche, im Umweg über einen „politischen Katholizismus“ die Gesellschaft nach der eigenen Soziallehre politisch zu gestalten, sind schrittweise zurückgenommen worden. Ebenso würde es neuen Versuchen ergehen, einer vielfach fragmentierten, pluralistischen Gesellschaft den Stempel eines antireligiösen oder religiösen Fundamentalismus aufzudrücken. Die Folge solcher Versuche wären schwere gesellschaftliche Konflikte mit hohen politischen Konfliktkosten – und am Ende würde die Komplexität einer sich allen Fundamentalismen entziehenden Gesellschaft sich letztlich doch als stärker erweisen.

 

Der Säkularismus als Megatrend, Ausdruck dieser komplexen Gesellschaft, mag durch Gegentrends aufgehoben oder zumindest wesentlich geschwächt sein. Religion ist nicht auf Privates reduzierbar, Religion hat eine politisch mobilisierende Kraft. Der Säkularismus als Konzept aber ist unverzichtbar – soll die pluralistische Demokratie mit ihrer Mischung aus verbindlichem Ethos und politischem Relativismus überleben.

 

 

BIBLIOGRAPHIE

 

Dahl 1989: Robert A.Dahl, Democracy and its Critics. New Haven (Yale University).

 

Fukuyama 1992: Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man. New York (The Free Press).

 

Huntington 1996: Samuel P.Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York (Simon and Schuster).

 

Knoll 1962: August M.Knoll: Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit. Wien (Europa).

 

Pelinka 2005: Anton Pelinka, Vergleich politischer Systeme. Wien (Böhlau/UTB).

 

Pelinka, Rosenberger 2003: Anton Pelinka, Sieglinde Rosenberger, Österreichische Politik. Grundlagen, Strukturen, Trends. 2., aktualisierte Auflage. Wien (WUV).

 

Röhrich 2004: Wilfried Röhrich, Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik. München (Beck).

 

Wills 1990: Garry Wills, Religion and American Politics. New York (Simon and Schuster).

 

Zulehner, Denz 1993: Paul M.Zulehner, Hermann Denz, Wie Europa lebt und glaubt. 2 Bände. Düsseldorf (Patmos).